SACHEN MIT WOERTERN - Das Debüt. - 1. Ausgabe

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SACHEN MIT WœRTERN

Zeitschrift für Literatur und Ähnliches. 1. Ausgabe, Oktober 2011.

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Was ist das. - Was - ist das... „ „Je, den Düwel ook, c‘est la question, ma très chère demoi-selle!“ (Thomas Mann: Buddenbrooks) // Mein Onkel Antonin Alexander war ein merkwürdiger Mann. (Cees Nooteboom: Philip und die anderen) // Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spiralarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. (Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis) // Ob ich erklären kann, warum ich von einem Hochhaus springen wolle? Selbstverständlich kann ich erklären, warum ich von einem Hochhaus springen wollte. Ich bin ja kein Vollidiot. (Nick Hornby: A long way down) // An diesem Abend wollte Madame Banocelli ihrem Leben ein Ende setzen und sich die Pulsadern an den Handgelenken aufschneiden. (Gabriel Osmonde: Lauras Reise ins Licht) // Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich ihm nachgeholfen. (Ian McEwan: Der Zementgarten) // Im 82er habe ich sie zum ersten Mal gesehen. (Françoise Dorner: Die letzte Liebe des Monsieur Armand) // Nach der viertägigen Schiffsüberfahrt durch die Drakestraße brauchte Viktor noch etwa drei Tage, um wieder zu sich zu kommen. (Andrej Kurkow: Pinguine frieren nicht) // Im Sommer vor der Jahrtausendwende verlor Susanna ihre Arbeit, ihre Tochter verlor ihre Jungfräulichkeit und ihre Schwiegermutter den Verstand. (Bettina Brömme: Sommerfinsternis) // Es wird Herbst und die Bäume färben sich gelb, rot, braun; das in einem schönen Tal gelegene Badestädtchen ist gleichsam von einer Feuerbrunst umgeben. (Milan Kundera: Abschiedswalzer) //

Schreiben Sie den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will – und dann immer so weiter. (Faulkner) // Wie froh bin ich, dass ich weg bin! (Johann Wolfgang von Goethe) // Ich bin nicht Stiller! (Max Frisch: Stiller) // Strapse! (Frank Schulz: Kolks blonde Bräute) // Hätte ihm jemand in der Morgendämmerung des vierten Septembers, da Joris Marquet nach einem kurzen Schlaf über dem Atlantik sich selbst zum Geburtstag gratulierte und den Plastikbecher mit Whisky in einem Zug leerte, hätte ihm da jemand vorausgesagt, er werde in diesem Jahr, seinem dreiundfünfzigsten, eine Affäre mit einer seiner Studentinnen haben, Joris hätte nur abwehrend das Gesicht verzogen. (Roger Monnerat: Die Schule der Scham) // riverrun, past Eve and Adam‘s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. (James Joyce: Finnegans Wake) // Ilsebill salzte nach. (Günter Grass: Der Butt)


Sachen mit Wörtern Das Debüt.


ZUM ERSTEN MAL... EIN EDITORIAL SCHREIBEN Lieber Leser, hätten wir geahnt, in was welche Misere wir uns mit der Wahl des Titels der ersten Ausgabe unseres Schützlings Sachen Mit Wörtern reiten, hätten wir vielleicht noch ein paar Nächte länger drüber geschlafen. So aber erhielten wir bereits lange bevor diese Zeilen in den Druck gingen den ersten entzürnten Leserbrief. Die - berechtigte! - Kritik lest ihr auf Seite 7. Dennoch gab es erfreulicherweise einige Menschen, die uns mit ihrem Wort und Bild in unserem Vorhaben unterstützt haben*, auch zu Zeiten, in denen wir quasi noch nicht einmal in Kinderschuhen steckten. Wir bedanken uns für euer blindes Vertrauen und hoffen, dieses nicht zu herb zu enttäuschen. Aber das liegt jetzt nicht mehr in unseren Händen, denn jedes Debüt erfordert auch den Mut, sich fallen zu lassen, an dem Punkt, an dem die Erfahrung fehlt. Und den haben wir jetzt erreicht. In diesem Sinne, schafft Neues, es grüßt: Die Redaktion

* Ihr wollt uns auch unterstützen? Schickt uns eure Beiträge zum Thema „Pausen“ für die nächste Ausgabe an sachen_mit_woertern@gmx.de. Abgabefrist flexibel.

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ZUM ERSTEN MAL... REDAKTION SEIN

Anneke Lubkowitz, Text Mein schönstes erstes Mal: Eine Geschichte schreiben und vorlesen. Mein schlimmstes erstes Mal: Fahrradfahren mit Stützrädern (auf Kopfsteinpflaster). Luca Liechti, Text Mein schönstes erstes Mal: Bowling. Alle zehn Pins beim ersten Wurf. Dann endete meine Karriere. Mein schlimmstes erstes Mal: Meinen Eltern zufolge: mein erster Kontakt mit Schlangen. Ich habe alles verdrängt. Theresa Lienau, Text, Layout Mein schönstes erstes Mal: Rixdorfer-Weihnachtsmarkt-Singen mit dem Kinderchor Gropiuslerchen. Mein schlimmstes erstes Mal: Menstruieren. Felix Müller, Foto, Text Mein schönstes erstes Mal: Ein Kuss auf die Stirn. Mein schlimmstes erstes Mal: Mein erstes Linguistik-Seminar. Lorenz Becker, Foto Mein schönstes erstes Mal: Barfuß rauchen im Schnee. Mein schlimmstes erstes Mal: Meine erste Nachmieterin.

Petrus Akkordeon, Illustration 5


ZUM ERSTEN MAL... INHALTE VERZEICHNEN

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Leserbrief // Franziska Nestler Traumnovelle // Arthur Schnitzler Debut // Simon Godart und Andreas Kramer „Ich liebe das Internet“ - Interview mit Katharina Swirski vom Projekt Publizieren Digital Heinrich von Ofterdingen // Novalis Debütantinnen // Magdalena Sporkmann Ewald Tragy // Rainer Maria Rilke Ohne Titel // Petrus Akkordeon „Wir debütieren noch immer“ - Interview mit Carolin Beutel und Kristoffer Cornils von der Lesereihe Kreuzwort Effi Briest // Theodor Fontane Erstlingsschwangerschaft // Johannes Daniel Huter „Nur Herzenangelegenheiten“ - Interview mit Daniel Beskos vom mairisch Verlag Der Knabe // Rainer Maria Rilke Mein Tag als Straßenverkäufer // Stephan Heiden „Ein konstantes Scheitern“ - Interview mit der Autorin Dorothee Elminger „Ein neuer Anfang – und trotzdem kein Ende in Sicht“ - Kolumne von Lorenz Becker 100 Wörter // Renate Saavedra, Buchhändlerin

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ZUM ERSTEN MAL... RUMMOTZEN

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Das Wort debüt ist doch recht kacke. Es kommt natürlich aus dem Franzackenreich, wo es début geschrieben, aber genauso gesprochen wird und auch das gleiche bedeutet. Ist doch komisch. Bekanntermaßen ist ja alles, was mit „dé“ oder eben „de“ beginnt, so halb zerstörerisch. DEstabilisieren, DEinstallieren,DEstroy. Wobei ja stroy eigentlich keine Einzelbedeutung hat. Außer im Katzenklo, höhö. Aber da wird’s ja auch anders geschrieben. DEstroy passt aber in die Zerstörer-Metapher…“but“, also quasi début ohne „de“, hat aber im Französischen durchaus eine Bedeutung, wie jeder weiß. Es heißt Ziel oder Absicht. Ist das nicht dumm? Ist es nicht wahnsinnig geistlos, die Anfänge von etwas als Nicht-Ziel zu tituliren? Ich hab da jedenfalls echt keinen Bock überhaupt erst zu debütieren, wenn mir mein Endziel schon von diesem zerstörerischen Präfix „dé“ verpestet wird. Häh versteh ick nich. Is mir jetzt zu hoch… Jedenfalls. Wat soll man denn dazu schreiben? Dit wort nimmt einem doch Spucke und Tinte! << (Franziska Nestler, Berlin)

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ZUM ERSTEN MAL... SICH GEMEINSAM NEU ERFINDEN

Es war in diesem Jahr ihr erstes Ballfest gewesen, an dem sie gerade noch vor Karnevalschluß teilzunehmen sich entschlossen hatten. Was Fridolin betraf, so war er gleich beim Eintritt in den Saal wie ein mit Ungeduld erwarteter Freund von zwei roten Dominos begrüßt worden, über deren Person er sich nicht klar zu werden vermochte, obzwar sie über allerlei Geschichten aus seiner Studenten- und Spitalzeit auffallend genauen Bescheid wußten. Aus der Loge, in die sie ihn mit verheißungsvoller Freundlichkeit geladen, hatten sie sich mit dem Versprechen entfernt, sehr bald, und zwar unmaskiert, zurückzukommen, waren aber so lange fortgeblieben, daß er, ungeduldig geworden, vorzog, sich ins Parterre zu begeben, wo er den beiden fragwürdigen Erscheinungen wieder zu begegnen hoffte. So angestrengt er auch umherspähte, nirgends vermochte er sie zu erblicken; statt ihrer aber hing sich unversehens ein anderes weibliches Wesen in seinen Arm: seine Gattin, die sich eben jäh einem Unbekannten entzogen, dessen melancholisch-blasiertes Wesen und fremdländischer, anscheinend polnischer Akzent sie anfangs bestrickt, der sie aber plötzlich durch ein unerwartet hingeworfenes, häßlich-freches Wort verletzt, ja erschreckt hatte. Und so saßen Mann und Frau, im Grunde froh, einem enttäuschend banalen Maskenspiel entronnen zu sein, bald wie zwei Liebende, unter andern verliebten Paaren, im Büfettraum bei Austern und Champagner, plauderten sich vergnügt, als hätten sie eben erst Bekanntschaft miteinander geschlossen, in eine Komödie der Galanterie, des Widerstandes, der Verführung und des Gewährens hinein; und nach einer raschen Wagenfahrt durch die weiße Winternacht sanken sie einander daheim zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme. Ein grauer Morgen weckte sie allzubald.

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aus: „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler


Debut // Simon Godart und Andreas Kramer Die Blüten lös, die ersten, aus dem Haar, es sommert für immer um uns, unter uns entsteht ein Ungebornes mehr. Nüchterner werden wir nicht, noch anders, neuer vielleicht, näher so sicher, der nächste Tag ist schon der zweite. Was werden wir sein, sag, die Letzten, die Ersten? Nur jeder Zweite weiß Rat, und wir zählen uns wiederum durch. Wir kommen zusammen, vergossene Leiber, und um uns ein Sommer, er ist, du gestehst, wie dein erster. Ein Schluck vom verbotenen Hang, du bekennst es, versuchst es, mich nennst du dann „Erdling“. Fass ich dich persisch, ägyptisch, hebräisch?

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„Ich liebe das Im Rahmen von Seminaren entwickeln Studenten unzählige zeitintensive Projekte, die selten mehr als eine Handvoll Menschen zu sehen bekommen - auch wenn sie für die Allgeeinheit relevante Ergebnisse produzieren. Wie das Projekt Publizieren Digital von Katharina Swirki und Mareike Witt vom Historischen Seminar der Leibniz Uni Hannover, hervorgegangen aus dem Seminar mit dem bedeutungsträchtigen Namen „Digitale Revolution - Wie das Internet unser Denken verändert“. Interview: Theresa Lienau Liebe Kater. Euer Projekt heißt Publizieren Digital. Worum geht‘s? Vor allem darum, die Möglichkeiten, die digitale Medien für das Publikationswesen an den Universitäten bieten, zu beschreiben und auszuprobieren. Es wird immer wichtiger, schnell und direkt Publikationen an den Mann bzw. die Frau zu bringen - in welche Richtung kann das gehen? Zusätzlich beschäftigen wir uns mit Fragen des universitären Alltags in einer Zeit, in der unmittelbarer Zugriff auf Veröffentlichungen (die man auch

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als riesigen, undurchdringbaren Wust wahrnehmen kann) im Netz möglich ist. Wir fragten uns, wie dies auch das Miteinander in der Uni beeinflusst und wie kooperatives und kreatives Lernen in der Zukunft so aussehen könnte. Ihr seid Historiker. Seit wann beschäftigt Ihr Euch mit der Gegenwart, geschweige denn der Zukunft? Als Historiker sollten wir erstmal in die andere Richtung schauen, würde man meinen. Wir durchforsten aber nicht nur alte Quellen und schreiben dicke, staubfangende Bücher darüber. Die Geschichtswissenschaft will gesellschaftlich relevante Fragen klären, die natürlich unsere Gegenwart betreffen. Dazu kommt, dass neue Medien auch das Forschen selber verändern können, z.B. in quantitativen Untersuchungen. Unsere Erkenntnisse müssen publiziert werden, um einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu sein. In Verbindung mit neuen Medien und sozialen Netzwerken könnte in der Geschichtskultur und ihren Publikationen in Zukunft Aufregendes passieren. Euer Projekt verspricht "Infos, News und Mitmachaktionen zum Thema Publizieren der Zukunft" - Wie publiziert die Zukunft? Schwer zut sagen. Tatsache ist aber, dass wir durch die Vernetzung im Internet viel


Internet“ schnellere Verbreitungsmöglichkeiten haben. Die Sorge, dass dadurch ja die Qualität leide kann man da getrost ausräumen. Es ist auch nicht gesagt, das jegliche Schriften umsonst sein müssen und dadurch den Autoren die Einnahmen wegbrechen. Ein Konzept wie das Open-Access-Publishing zeigt das Gegenteil. Ich denke aber, dass vor allem die Verlage mehr in die Zukunft schauen sollten. Medienwandel bedeutet doch, dass man sich auch an die neue Umgebung anpassen sollte. Ich hoffe, dass auch Studierende in Zukunft ihre Schriften veröffentlichen und darüber diskutieren können. So könnten auch neue Lernräume entstehen, die ungeahnte Potenziale freisetzen könnten. Welche Tipps und Tricks habt ihr für publikationswillige Studenten jedweder Fachrichtung auf Lager? Zunächst einmal sollte man keine Angst haben, selbst wenn die Kenntnisse mit Textverarbeitung und dem Netz nicht riesig groß sind. Das wäre der erste Schritt. Dann sollte man sich, wenn es z.B. um Abschlussarbeiten geht, umsehen, ob ein Fachportal besteht. Einige Unis haben auch eigene Studentenserver, die Arbeiten bereitstellen. In Hannover existiert das Projekt Perspektivräume welches zweimal im Jahr besonders gute Arbeiten veröffentlicht.

Chat mit Katharina Swirski vom Projekt Publizieren Digital

Publizieren kann natürlich heute im Netz jeder, siehe Blogs etc. Viel wichtiger ist es also, die richtigen (Leser-)kreise zu finden. Das ist für Studierende, deren Unis hier wenig anbieten, schwieriger. Erzähl von Deiner eigenen Erfahrung der ersten digitalen Publikation. Über welche Steine bist du gestolpert? Wichtig ist die Verbreitung auf dem richtigen Weg, damit mehr als die zwei deiner regelmäßigen Blogleser in den Genuss deiner Schriften kommen. Als wir unsere Filme veröffentlicht haben, die auch über unsere Homepage und facebook-Seite zu finden sind, haben wir natürlich auf youtube zurückgegriffen, hier ordentlich Schlagwörter für die Suchmaschine eingegeben und unseren Blog und den Rest mit Seiten vernetzt, die ähnliche Themen beschäftigen. Das waren Dozenten von uns aber auch andere Studierendenprojekte, die man z.B. über twitter findet. Buch oder Internet? Ganz klar beides. Das Buch wird weiter existieren, es wird nur einen anderen Raum einnehmen. Doch das Internet liebe ich auch sehr. Weitere Informationen zu Publizieren Digital unter http://publizierendigital. wordpress.com; publizierendigital.de und facebook.com/publizierendigital

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ZUM ERSTEN MAL... EINE MÄDCHENSTIRN KÜSSEN

Heinrich fühlte die entzückenden Weissagungen der ersten Lust und Liebe zugleich. Auch Mathilde ließ sich willig von den schmeichelnden Wellen tragen, und verbarg ihr zärtliches Zutrauen, ihre aufkeimende Neigung zu ihm nur hinter einem leichten Flor. Der alte Schwaning bemerkte das kommende Verständnis, und neckte beide. Klingsohr hatte Heinrichen lieb gewonnen, und freute sich seiner Zärtlichkeit. Die andern Jünglinge und Mädchen hatten es bald bemerkt. Sie zogen die ernste Mathilde mit dem jungen Thüringer auf, und verhehlten nicht, daß es ihnen lieb sei, Mathildens Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihren Herzensgeschäften scheuen zu dürfen. Es war tief in der Nacht, als die Gesellschaft auseinanderging. »Das erste und einzige Fest meines Lebens«, sagte Heinrich zu sich selbst, als er allein war, und seine Mutter sich ermüdet zur Ruhe gelegt hatte. »Ist mir nicht zumute wie in jenem Traume, beim Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbare Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht, und nun erinnere ich mich auch, es in jenem Buche gesehn zu haben. Aber warum hat es dort mein Herz nicht so bewegt? O! sie ist der sichtbare Geist des Gesanges, eine würdige Tochter ihres

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Vaters. Sie wird mich in Musik auf lösen. Sie wird meine innerste Seele, die Hüterin meines heiligen Feuers sein. Welche Ewigkeit von Treue fühle ich in mir! Ich ward nur geboren, um sie zu verehren, um ihr ewig zu dienen, um sie zu denken und zu empfinden. Gehört nicht ein eigenes ungeteiltes Dasein zu ihrer Anschauung und Anbetung? und bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen sein darf? Es war kein Zufall, daß ich sie am Ende meiner Reise sah, daß ein seliges Fest den höchsten Augenblick meines Lebens umgab. Es konnte nicht anders sein; macht ihre Gegenwart nicht alles festlich?« Er trat ans Fenster. Der Chor der Gestirne stand am dunkeln Himmel, und im Morgen kündigte ein weißer Schein den kommenden Tag an. Mit vollem Entzücken rief Heinrich aus: »Euch, ihr ewigen Gestirne, ihr stillen Wandrer, euch rufe ich zu Zeugen meines heiligen Schwurs an. Für Mathilden will ich leben, und ewige Treue soll mein Herz an das ihrige knüpfen. Auch mir bricht der Morgen eines ewigen Tages an. Die Nacht ist vorüber. Ich zünde der aufgehenden Sonne mich selbst zum nieverglühenden Opfer an.« aus: „Novalis“ von Heinrich von Ofterdingen

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Debütantinnen // Magdalena Sporkmann Die Schöne sitzt im Pelz am Bahngleis, mit der behandschuhten Hand die Augen beschattend, und herausfordernd blinzeln ihre braunen Augen hervor. Jugend leuchtet aus dem blonden Haarkranz. Keck immerhin das Schnalzen, welches sagt: ‚Also mir erzählst du da nichts Neues, ich hab schon Allerhand gesehen und gehört!‘ Und der komische Hut sitzt schief. „Ich meine, die Mädchen in meinem Kreise waren auch Huren, nur nannte man sie Debütantinnen.“ Die Lider schließen sich über dem verträumten Schimmer der Augen: „Oh, ich wäre furchtbar gern Hure für ein Jahr; nur für ein Jahr!“ Der junge Mann lächelt gutmütig zu solchen Mädchenfantasien. Sie derweil sieht sich im fleischig roten Licht, welches durch die geschlossenen Lider strahlt als hochbeiniges, federumwundenes Glimmerwesen auf einem Spiegel Absatz vor Absatz setzen, zur Melodie seines Gitarrezupfens. Sie lächelt und er küsst ihren lieblichen Mädchenmund.

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Wie viele Jahre später? Er sagt, er mache eine Aufnahme in der Stadt, habe einen feinen Song geschrieben. Er steht wieder vor ihr. Er vermutete oder hoffte zumindest, sie an der Promenade zu finden. Und tatsächlich erkennt er von hinten ihre kleine Silhouette, sie trägt sogar noch denselben komischen Hut. Nur die Locken liegen braver. Sie isst ihr Mittagsbrot und lässt auch nicht ab davon, als er sich schon neben sie gesetzt hat und von den Konzerten und Erfolgen und von den wechselnden Bandmitgliedern plaudert. Immerfort blickt sie sogar das kleiner werdende Brot prüfend an, als verriete es ihr, was sie sprechen sollte, wenn es einmal aufgegessen sei. Das Brot nun mal bleibt stumm und so wartet sie seine Frage ab. Natürlich kommt er auf Mann und Kinder zu sprechen. Beides bejaht sie: „Ein Junge.“ - „Na, das ist besser. Die Frauen sind teuer und machen Scherereien.“ Bald verabschiedet er sich, man sähe sich ja hoffentlich bei


einem der Konzerte, welches er in den nächsten Tagen gebe; nur vielleicht nicht eben jenes am heutigen Abend, das sei kein Etablissement für eine Frau. Keine, wie sie. Sie lächelt und er küsst auf die Linie neben ihrem Mund. An diesem Abend sind nur wenige der Tische im Lokal besetzt, als sie den ersten Song bringen, doch die Stimmung ist gut und es ist noch nicht spät, ja noch nicht einmal dunkel. Die Mädchen sitzen schläfrig paffend an der Bar. In ihren Gläschen schwappt blauer Likör um Eiswürfel her, sie trinken ihn wie starken Kaffee. Nach der Pause bekommen die Schönen einen Klaps auf ihre benetzten Schenkel; Aufforderung zum Tanz. Sie erklimmen die runden Podeste neben der Bühne und am Rand der Bar. Eine klopft zunächst ein wenig mit dem Fußballen den Takt, einer anderen schaukeln die Schultern, eine Dritte wiegt sich auf den langen Beinen zur Musik. Das schwarze Linoleum wirft matt das Scheinwerferlicht zurück und so tanzen die Weibswesen wie auf Zerrspiegeln aus buntem Licht. Der Gitarrist kündigt den neuen Song an. Das „Etablissement“, wie er es nannte, ist nun gut gefüllt, die meisten Gäste sind Männer. Aber auch ein paar Damenhüte wippen zwischendrin. Manche schwofen. Neben der Bar die Tänzerin, die ihm gefällt. Eine zierliche, blondgelock-

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te. Den Blick der dunkel geschminkten Augen vermag er nicht auszumachen, noch aufzufangen. Gar scheint sie immerfort zu Boden zu sehen. Ihr Tanz ist leicht, sie kreist geschmeidig, tippt und wippt zart. Die Männerhände, die ihr ab und an eine Note hinters Strumpfband schieben, bedenkt sie mit einem Lächeln, ohne Blick. Ihr Mund glänzt rot gelackt. Nach der Vorstellung, vorm Künstlereingang, verladen sie die Instrumente in den Transporter. Alles geht langsam voran, weil man noch redet, trinkt und raucht. Die Stimmung ist gut. Man fühlt sich nicht unterbezahlt. Der Bandleader bleibt zurück, die kleine Blonde hat sich auf einen Kaffee eingelassen. Als er so sitzt und an der Bar auf sie wartet, schaut er den Wirbeln seines Zigarettenrauches nach, wie sie sich mit dem Dunst der Kneipenluft vereinigen. Die kleine Blonde holt ihr Cape an der Garderobe ab. Als sie sich neben ihm niederlässt, bemerkt er ihr Lächeln, das eines jungen Mädchens. Die Augen blicken nun weniger dunkel und der Mund ist noch matt rot gefärbt. Sie ist jünger als er dachte. Er schiebt den Kaffee vor sie hin und während sie trinkt, plaudert er von seiner Musik, macht einmal einen Scherz, über den sie lächelt. Er zahlt den Kaffee und ihr Taxi. Zum Abschied küsst er ihre Mädchenstirn. Als er seinen Mantel am Tresen der Garderobe fordert, hängen dort noch einige Kleidungsstücke. Allesamt warten sie darauf, eines anderen Abends abgeholt zu werden, wenn man sich ihrer wieder erinnert. Darunter ist ein Damenhut, ein komisches Modell. Frei nach Woody Allen

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ZUM ERSTEN MAL... KLAR SEIN Man wird es kaum glauben: Ewald Tragy schläft volle vierzehn Stunden. Und das ist ein fremdes elendes Hotelbett, und auf dem Bahnhofplatz gibt es Lärm und Sonne seit fünf Uhr früh. Er hat sogar vergessen zu träumen, trotzdem er weiß, daß ‚erste‘ Träume besondere Bedeutung haben. Er tröstet sich damit, daß sich jetzt Alles erfüllen könne, gleichviel, ob man es träume oder nicht, und zieht diesen letzten Schlaf hinter allem Gestrigen aus wie einen langen, langen Gedankenstrich. Fertig. So, und jetzt? Und jetzt kann es beginnen - das Leben, oder das, was eben zu beginnen hat der Reihe nach. Der junge Mensch streckt sich behaglich in den Kissen aus. Vielleicht will er so, in dieser wohligen Wärme, die Ereignisse empfangen? Er wartet noch eine halbe Stunde, aber das Leben kommt nicht. Da steht er denn auf und beschließt ihm entgegenzugehen. Und daß man dies müsse, ist die Erkenntnis des ersten Morgens. Sie befriedigt ihn, gibt ihm Bewegung und Zweck und treibt ihn hinaus in die neue lichte Stadt. Er weiß zunächst nur, daß die Gassen unenndlich lang und die Trambahnen lächerlich klein sind, und ist ohneweiters geneigt, jede dieser beiden Erscheinungen durch die andere zu erklären, was ihn ungemein beru-

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higt. Alle Dinge interessieren ihn, die großen und bedeutenden nicht zuletzt. Aber je tiefer in den Tag hinein, desto mehr verliert alles an Wert den Regenrinnen gegenüber, vor welchen Tragy immer nachdenklicher stehen bleibt. Er lächelt nichtmehr über die darangeklebten kleinen Zettel und ihre Versprechungen und hat keine Zeit mehr, sich über die seltsame Sprache zu wundern, in der sie abgefaßt sind. Er übersetzt sie mit krampfhafter Geschäftigkeit und schreibt viele Namen und Nummern in sein Taschenbuch. Endlich macht er den ersten Versuch. Im Flur schiebt er seine Krawatte zurecht und nimmt sich vor: Ich werde sehr höflich sagen: `Verzeihen Sie, hier ist wohl ein Zimmer für einen Herrn, nichtwahr?` Er läutet, wartet und sagt es höflich, hochdeutsch und mit bescheidener Betonung. Eine große breite Frau drängt ihn gleich links in eine Tür, ehe er mit seiner Frage zuende ist. "Wissen S´ich sags gleich wie es is. Sauber is‘s. Und wenn S´sonst noch was brauchen..." Und damit erwartet sie, die Hände in die Hüften gestemmt, seine Entscheidung. Das ist eine kleine Stube, zweifenstrig mit alten umständlichen Möbeln und schon ganz voll Dämmerung, so daß man das Gefühl hat, eine Menge Dinge mit zu mieten, von denen


man sich nicht träumen läßt. Und wie nun der junge Mann so gar nichts sagt und sich kaum umsieht in dem dunklen Zimmer, fügt die Frau zögernd an: "Und`s macht halt zwanzig Mark im Monat samt Frühstück, soviel haben wir halt immer bekommen -" Tragy nickt ein paar Mal. Dann tritt er näher an den alten Sekretär heran, der in einer Ecke steht, prüft die breite aufgeklappte Schreibplatte und lächelt, zieht zwei oder drei von den kleinen Schubläden im Hintergrund auf und lächelt wieder: "Der bleibt doch hier stehn, der Schreibtisch?" erkundigt er sich und ist ganz entschlossen: ich bleibe auch. Aber dann fällt ihm die lange Reihe von Nummern in seinem Taschenbuch ein, wie eine Pflicht, und er meint schnell: "Das heißt, bis morgen darf ich mirs wohl überlegen?" "Ja wegen meiner -" Und Tragy merkt sich gut das Haus und schreibt in sein Taschenbuch: `Frau Schuster, Finkenstraße 17 Hinterhaus, parterre, Schreibtisch.` Hinter ‚Schreibtisch‘ drei Rufzeichen. Dann ist er sehr zufrieden mit sich und versucht nichts mehr an diesem Tage. Aber am nächsten Morgen beginnt er ganz früh seinem Taschenbuch nachzugehen. Und das ist keine Kleinigkeit. Vormittags, solang die Leute

noch ausgeschlafen und die Stuben gut gelüftet sind, freut ihn seine Wanderung noch einigermaßen. Er notiert pünktlich alle Vorzüge - dort einen Erker mit Aussicht, gegenüber ein Kanapee, und ein Badezimmer in Nummer 23, zwei Treppen, nirgends mehr ein Schreibtisch, allerdings. Dafür bringt er da und dort kleine Warnungen an,. zum Beispiel: `kleine Kinder` oder: `Klavier` oder: `Wirtshaus`. Dann werden die Notizen immer karger und hastiger; seine Eindrücke verändern sich ganz seltsam. In gleichem Maße mit der Unfähigkeit seiner Augen wächst die Empfindlichkeit seiner Geruchsnerven, und um Mittag hat er diesen vernachlässigten Sinn soweit ausgebildet, daß ihm die Außenwelt einzig durch ihn mehr zum Bewußtsein kommt. Er denkt: Aha, Linsen, oder: Sauerkohl, und wendet sich schon

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auf der Schwelle um, wenn ihm irgendwo ein Wäschetag entgegenqualmt. Er vergißt ganz den Zweck seiner Besuche und beschränkt sich, einfach die Eigenart der einzelnen Atmosphären festzustellen, welche ihm aus den lächerlich kleinen Küchen, gleich losgelassenen Hunden, entgegenstürzen. Dabei rennt er heulende kleine Kinder um, lächelt den erzürnten Müttern dankbar ins Gesicht und versichert stumme Greise, die er irgendwo in einem Stubenwinkel aufstört, seiner besonderen Hochachtung. Schließlich dunkeln alle Flure, und da kommt ihm in jeder Tür, wo immer er läuten mag, immer dieselbe breite Frau entgegen, dieselben Kinder heulen ihn überall an, und im Hintergrund ist immer wieder dieser gestörte alte Herr mit den erschreckten verständnislosen Augen. Da flieht Ewald Tragy, atemlos. Als er sich erholt, findet er sich vor dem uralten Schreibtisch mit den vielen Schubladen und hat just begonnen zu schreiben: `Lieber Papa, meine Wohnung ist also: Finkenstraße 17 bei Frau Schuster.` aus: „Ewald Tragy“ von Rainer Maria Rilke

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o. T. // Petrus Akkordeon erst zuerst muß man geboren werden sich machen und warten verdammt sein und nichts in rosa häuten sich schmetterlingen elend als raupe dann bald bald bald bald das erste sein sein dürfen nein nur sagen laut heraus ich ! das ist aller anfang anfang bis alles selbst zerbröselt

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„Wir debütieren Wer gern Kreuzworträtsel löst, weiß, dass dieser Denksport viel mit Ausprobieren, Zusammensetzen, kurz Experimentieren zu tun hat. Experimentiert wird auf jeden Fall auch bei der Berliner Lesereihe Kreuzwort, die – wen wird das jetzt noch überraschen – in einer gemütlichen Kneipe in Kreuzberg zuhause ist. Die Kreuzwort-Organisatoren Carolin Beutel und Kristoffer Cornils über ein Literaturexperiment „abseits der typischen Wasserglaslesungen“.

Carolin: Nach journalistischen Traumata studiere ich Kunstgeschichte und Deutsche Philologie. Mein eigenes Schreiben wird für die nächste Zeit außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden.

Interview: Anneke Lubkowitz

„Wir wollen immer etwa Neues vorführen“

Wer seid und was macht ihr, wenn ihr gerade einmal nicht Kreuzwort seid? Kristoffer: Ich studiere Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Deutsche Philologie, nebenbei schreibe ich noch Literatur- und Musikkritik und selbst ein wenig Lyrik.

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Was und wen wollt ihr erreichen? Carolin: Als wir vor fast einem Jahr das Angebot des damaligen Schatzi Neubergs bekamen, dort eine Lesereihe zu veranstalten, war das auch für uns eine Gelegenheit zum Experimentieren. Wir wollten versuchen etwas abseits der typischen Wasserglaslesungen und Podiumsdiskussionen zu machen. Dem Rahmen gemäß herrscht bei uns eine lockere

Atmosphäre. So haben wir eine kleine Lücke innerhalb der großen Anzahl Berliner Lesungen für uns gefunden. Natürlich freut man sich als Veranstalter, wenn neben den bekannten Gesichtern auch Publikum abseits des kleinen Kreises der „Lesungsgänger“ und „Literaturbetriebler“ erreicht, wobei wir mit denen, und natürlich auch


noch immer“ anderen interessierten Gästen, immer sehr gern nach den Lesungen bei ein paar Bier sitzen. Kristoffer: Einerseits wollten wir etablierte Autorinnen und Autoren bei uns haben, diesen allerdings wiederum Freiraum für Experimente geben. Bei unserem Debüt las Tom Bresemann zum Beispiel zum ersten Mal öffentlich Prosa. Andererseits ist es uns wichtig, den "Nachwuchs" immer dabei zu haben, um auch dem geübten Lesepublikum etwas Neues vorzuführen. Erreichen wollen wir damit jeden, der sich für Literatur interessiert oder interessieren könnte. Wie man sieht, bietet KREUZWORT ein breites Spektrum an Autoren. Wonach wählt ihr aus, wen ihr einladet? Carolin: Es ist jedes Mal aufs Neue interessant, was passiert, wenn arrivierte Autoren auf jüngere treffen. Bis

„Bisher ist kein Cent in unserer Tasche gelandet“ jetzt gab es von beiden Seiten immer sehr positive Resonanzen – so z.B. bei einer Lesung im März, die wir mit

zu Gast bei Kreuzwort in Berlin

Björn Kuhligk und Tom Schulz sowie mit Friederike Scheffler und Max Czollek von der jungen Lyrikgruppe G13 veranstalteten. Für Experimente sind wir immer offen – da gab es interessante Veranstaltungen, wie szenische Lesungen und performative Gruppenprojekte. Manchmal machen wir auch Veranstaltungen die einen thematischen Schwerpunkt haben. So veranstalten wir als nächstes mit dem Fixpoetry.Verlag zusammen einen Abend mit politischer Lyrik von Autoren verschiedenen Alters und Bekanntheitsgrades. Kristoffer: Allerdings gibt es natürlich sehr pragmatische Grenzen: Wir können keine Gage zahlen oder ein wirklich üppiges Fahrtgeld übernehmen, da wir das ganze Projekt allein über die Eintrittsgelder finanzieren, von denen bisher kein einziger Cent in unserer Tasche gelandet ist. Ab und zu schaffen wir es, Leute aus Leipzig oder Hamburg einreisen zu lassen, das ist immer erfreulich und vor allem abwechslungsreich. Ansonsten sind wir gewissermaßen auf die Berliner Literaturszene beschränkt, die natürlich ebenfalls viel zu bieten hat, aber andererseits mit der Vielzahl an

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Lesungen bereits die Bedürfnisse des Publikums befriedigt. Euch gibt es schon seit September 2010. „Wir debütieren noch immer“ schreibt ihr ungeachtet dessen auf eurer Website . Was heißt das für euch und die Autoren, die bei euch lesen? Kristoffer: Nun ja, das Stichwort „debütieren“ beziehungsweise „Debüt“ ist hier etwas weit gefasst. Letztlich bedeutet es, dass wir jeden KreuzwortAbend als neuen Versuch auffassen. Einige Autorinnen oder Autoren habe ich selbst zum ersten Mal bei uns lesen gehört und selbst solche, die mir sehr gut bekannt sind, lesen zeitweise neue Texte vor oder experimentieren etwas. Insofern fühle ich mich durchaus häufiger als Debütant - entweder als Veranstalter oder als Zuhörer selbst. Carolin: So banal das klingt, es ist jedes Mal aufs Neue spannend. Besonders wenn Autoren lesen, die wir selbst noch nie haben lesen hören oder die eine ihrer ersten Lesungen bei uns haben. Natürlich haben wir über die Monate viel dazu gelernt, aber wir sind keine Profis, sondern noch immer Debütanten , die aus der Praxis heraus lernen. Das Debüt ist ein oder das fundamentale(s) Ereignis im Leben eines Schriftstellers. Wo seht ihr euch dabei? Kann Kreuzwort für bisher unentdeckte Talente ein Sprungbrett sein?

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Kristoffer: Ich betrachte Kreuzwort als nicht mehr als einen Rahmen, in dem sich die Autorinnen und Autoren frei bewegen können, wir sie möchten.

„Wir sind keine Karriereschmiede“ Ich denke nicht, dass wir durch die Lesungen allein einen entscheidenden Beitrag zugunsten der "Karriere" (was auch immer das sein soll) einer jungen Autorin oder eines jungen Autors leisten. Was in dieser Hinsicht wohl mehr wiegt ist die Tatsache, dass bei uns eine lockere Atmosphäre herrscht und auch die Youngsters mit den Etablierten ins Gespräch kommen können - da sind ja durchaus mal (Mit-)Herausgeberinnen von Zeitschriften oder gar Verlagen dabei. Geburtshelfer spielen wir keineswegs, auch wenn wir gerne vermitteln und weiterleiten - Vernetzung jenseits von allen betrieblichen Hierarchien war uns immer ein Anliegen. Carolin: Genau, Kreuzwort ist keine Karriereschmiede, jedoch eine kleine Etappe, die auch was bringen kann. Autoren machen nur schwer Karriere, aber da sind Auszeichnungen, Stipendien und Wettbewerbe wie der Open Mike, der jährlich von der Literaturwerkstatt Berlin veranstaltet wird, wichtigere „Karriereetappen“. Beim open mike wählt eine Jury aus vielen hundert Einsendungen Texte von Nachwuchsautoren aus, die dann zum


Teil dort erst ihr Debüt geben und vor hunderten von Leuten lesen. Welche drei Autoren hättet ihr gerne zu ihrem Debüt bei Kreuzwort gehabt? Carolin: Natürlich würde ich mich generell freuen, wenn wir auch Autoren außerhalb Deutschlands einladen könnten. Es gibt beispielsweise interessante österreichische Literatur oder sehr hörenswerte Texte aus Serbien und Kroatien. Vielleicht werden wir irgendwann die Möglichkeiten für europaweite Einladungen haben, jedoch ist Kulturarbeit teuer und an die Geldmittel zu kommen alles andere als leicht. Wir müssen uns jedoch nicht beklagen, denn bei uns

„Homer, Dante und Shakespeare wären schön gewesen.“ haben schon so viele Autoren gelesen, von denen ich niemals gedacht hätte, dass sie den Weg zu uns finden würden. Bis jetzt stießen wir mit unseren Anfragen immer auf positive Reso-

nanz, das wissen wir sehr zu schätzen. Ich war mit der Auswahl der Autoren am ersten Abend sehr zufrieden, denn sie spiegelte von Anfang an den Grundgedanken von Kreuzwort wieder. Da waren zwei junge Autoren aus dem Lyrikzirkel G13, Lea Schneider und Tristan Marquardt, sowie der Lyriker Tom Bresemann, der vor Jahren schon mit den S3-Literaturweken SBahn-Lesungen veranstaltete. Tom las, wie Kristoffer schon berichtete, zum ersten Mal Prosa. Hier kam unser experimenteller Gedanke schon von Anfang an zum Tragen. Kristoffer: Das ist eine Frage, von der ich nicht ganz sicher bin, wie ich sie beantworten soll, aber Homer, Dante Alighieri und Shakespeare wären sicherlich schön gewesen. Ansonsten freue ich mich über jede Debütantin und jeden Debütanten ebenso sehr wie über jeden anderen Lesenden. Weitere Informationen zu Kreuzwort unter http://kreuzwortberlin.wordpress.com/.

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ZUM ERSTEN MAL... EIGENE ZIELE SETZEN

»Nun, Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal, und er schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht väterlich weise.« »Das würde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe meine Jugend. Und ich würde ihm mit den Fingern drohen und ihm sagen: 'Geert, überlege, was besser ist.'« Und dann würde er dir antworten: 'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.' Denn er ist nicht nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und verständig und weiß recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt, so werdet ihr eine Musterehe führen.« »Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine Musterehe nennt.« »Das sieht dir ähnlich. Und nun sage mir, wofür bist du denn eigentlich?« »Ich bin... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfährt und für jede Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn wir dann in Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper, immer dicht neben der großen Mittelloge.« »Sagst du das so bloß aus Übermut und Laune?« »Nein, Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.« aus: „Effi Briest“ von Theodor Fontane

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Erstlingsschwangerschaft // Johannes Daniel Huter „Du hier?“ Beim letzten Mal, vor sieben Monaten -?, warst du noch nicht zu zweit – das Folgende konnte ich nur gedanklich hinzufügen, weswegen sie ein wenig verwundert war, was, glaube ich zumindest, ihr irgendwie gefiel, eine kleine Nachdenkpause, denn andere mögen die Schwangerschaft, ihre erste Schwangerschaft, ihr erstes Kid, als wunderbar - vielleicht denke ich in fünf oder zehn, vielmehr hoffentlich denke ich in fünf oder zehn Jahren anders darüber - erachten, mir wird in der Gegenwart Schwangerer immer unwohl, nicht ein gewöhnliches Unwohlsein in Gegenwart von, wie es gestern der Fall gewesen war, zwei alte Schulfreunde waren mir über den Weg gelaufen, der eine gut einen Kopf größer als ich, in der Schule immer einer der todsicheren Unruheherde und ausgerechnet er wurde, wie hätte man es anders erwarten sollen, auch die frustriertesten Lehrer mussten irgendwann ihren Anfang nehmen, jetzt Lehrer, bis zum heutigen Tag hatte ich noch keinem angehenden Lehrer sagen können, dass sie, sobald sie im Klassenzimmer stehen würden, sich an ihre Zeit dort erinnern müssten und somit mehr Verständnis aufbringen, der andere, ich würde nicht sagen bemitleidenswerter, eher von den Problemen, die natürlich nahtlos auf ihn weitergegeben wurden, seiner Eltern, die noch im Zwang Verhaftete waren, spießige Zeitgenossen, obwohl ich ihnen noch nie begegnet war, stand diese Tatsache, unumstößlich, ein Streber, dem seine Ausbildung eine sichere Zukunft und gutes Geld versprach, wenn nicht voraussetzte, das aber nicht erkannte und in ständiger Angst vor Arbeitslosigkeit verging und am liebsten mit dem gesamten Studienangebot und sämtlichen Ausbildungen im Pflegebereich, was die stundenlangen Berufseignungstests ergeben hatten, wie er betonte, wäre er der geborene Altenpfleger und unter uns, wir mögen gleich alt sein, rein biologisch gesehen, er verfügte aber über die Geisteshaltung eines Greises und somit war das von ihm unbewusst sich selbst suggerierte Berufseignungstestergebnis allzu verständlich, denn lag nicht im Pflegebereich die Zukunft?, würde nicht dort immer mehr Personal gebraucht?, am liebsten sofort ins Bett gehüpft, um sich ihr Wissen wahrlich einzuverleiben, geprägt war, als wir auf der Rolltreppe gestanden hatten und hinter uns zwei, die uns schon am Eingang zum Bahnhof durch ihr zusammenhangloses Krakeele aufgefallen waren, Besoffene, die ebenfalls die Rolltreppe benutzen wollten, unter uns, ein unverletzt Bleiben und dazu noch sturzfreies Treppensteigen hätte ich ihnen nie zugetraut, der Dicke mit den scheußlichen Tätowierungen, wer um alles in der Welt lässt sich einen Totenschädel zwischen zu kurzem und zu engem T-Shirt und dem längst unter der Schwarte verschwundenen Hosenbund auf die Wampe stechen?, hätte es eher noch unbeschadet überstanden, aber dem Dürren wären die Beinchen29


abgebrochen, mich überraschten, als sie uns überholten und mein großer Freund ihnen auswich, aber der andere erst!, als die Besoffenen noch entfernt waren richtig gehend hibbelig wurde, als hätte er Angst, sich zur Seite drückte und am liebsten weggerannt wäre, um auf keinen Fall die Wege mit dem Dicken und dem Dürren kreuzen zu müssen, Personen, nein, mehr eine leichte Unsicherheit sobald man verstanden hat, ausgehend vom Bauch eine leichte Unsicherheit, seltsamerweise dieselbe Stelle, die ich an den Besagten als befremdlich empfinde, was, wie gesagt, andere mögen es faszinierend finden, wenn ein Leben im Mutterleib, aber genau das ist es: ein Leben wächst in einem anderen Leben heran, ein Mensch, wenn auch ein noch nicht völlig, geistig wie körperlich entwickelter Mensch im selben Körper, heranwächst, ich hingegen finde allein den Gedanken an die Umstände einer solchen Schwangerschaft befremdlich, im Körper der Anderen wirklich vor sich geht, als würde ein Hohlraum hinter der Stirn plötzlich mit Wasser, wieder eine dieser unheimlichen Ähnlichkeiten!, geflutet werden, eine lange schon im Unterbewusstsein schlummernde Erkenntnis, die sich unbeirrt, ausgelöst von einer unnatürlich gewölbten Bauchdecke, ihren Weg an die Oberfläche bahnt, was ich natürlich nicht sagte – wenn man es recht bedenkt schon, einen Monat mindestens, nur nicht so offensichtlich, sie erzählte, was es über eine Schwangerschaft zu erzählen gab, nicht zu viel, ich bohrte ja nicht nach, sprach lieber von mir, einem vertrauteren Thema, von meiner Suche nach einem Plattenladen, den mir eine Freundin empfohlen hatte, der etwas abseits meiner herkömmlichen Strecke zum Bahnhof lag und ich, als ich ihn gefunden hatte, den Laden, es aber nicht mehr riskieren wollte

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hineinzugehen und mich in der Zeit zu verlieren, denn für genau diese hatte ich kein Gefühl, wie lange ich zum Bahnhof gehen würde, und mich sputete, aber nicht laufen wollte – dafür war es zu heiß – und dann, kaum in der großen Ankunftshalle mit dem elektronischen Fahrplan feststellen musste, dass der Zug eine halbe Stunde Verspätung hatte und beschloss etwas zu trinken zu kaufen und nun hier war, aber immer noch auf der Suche nach dem Getränk, das ich wirklich wollte, deshalb ausgerechnet in dieser Regalreihe, in der nichts für mich Interessantes angeboten wurde, gelandet war, und mir dieses herkömmliche Zeugs, das mir gestohlen bleiben konnte, fand und natürlich über meine Pläne, die ihr gefielen, sie horchte aufmerksam zu, entgegnete, dass sie ebenfalls mit dem verspäteten Zug hätte fahren wollen, sich aber um entschied und mit einem früheren, ich wusste nicht, sollte ich es der Schwangerschaft oder einfach nur ihrem Denken zuschieben, Zug, einem Pendelzug, der in jedem Kaff stehenbleiben würde, zu fahren und dabei nicht begriff, dass der Schnellzug, auch bei noch so großer Verspätung sie früher ans Ziel bringen würde, was mir erst später einfiel, ihr zu sagen, ich war viel zu abgelenkt von dem aufgedunsenen Bauch, als sie lachte, irgendetwas an mir hatte sie belustigt, wippte der gesamte Bauch mit ihr – wie musste das das Ungeborene durchgeschüttelt haben! – was zu viel war, ein wippender Bauch ein Schwangeren war einfach zu viel, ich musste mich verabschieden, versprach, mich bei ihr zu melden, aber erst nach der Geburt, sie habe bis dort keinen Kopf für andere Dinge, wie sie sagte, wobei ich vergaß, ob die Geburt in drei Wochen oder drei Monaten sein würde.

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„Nur Herzensange Interview: Luca Liechti Herr Beskos, erzählen Sie uns etwas über den mairisch Verlag. mairisch ist ein Indie-Verlag, den ich 1999 zusammen mit Peter Reichenbach und Blanka Stolz gegründet habe. Wir verlegen vor allem junge Gegenwartsliteratur, also Romane und Erzählungen, daneben aber auch Stücke aus der freien Hörspielszene

„Do-it-yourself wurde zu unserer Devise“ und seit kurzem auch die Musik des deutschsprachigen Songwriters Spaceman Spiff. Angefangen haben wir zum Ende unserer Schulzeit, wir veranstalteten damals Lesungen junger Autoren. Daraus entstand dann irgendwann die Idee, einen Verlag zu gründen, rein aus Spaß – und weil „do-it-yourself “, das Selbstmachen, bei uns zur Devise wurde. Einen richtigen Plan, ein Unternehmen zu gründen, gab es damals nicht. Zunächst gab es kleinere, unregelmäßige Produktionen (Bücher und CDs), erst seit 2005 sind wir regulär im Buchhandel vertreten. Seitdem

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wurde alles deutlich professioneller. Wir haben unser Team ausgeweitet, viele neue Autoren kennengelernt, konnten einige Erfolge bei Presse und Lesern erreichen und haben 2006 sogar die Verlagsprämie der Hamburger Kulturbehörde für besonders ambitioniertes Programm bekommen. Der mairisch Verlag ist eine relativ junge Institution der deutschen Verlagslandschaft. Sicher können Sie sich noch an Ihr Debüt als Verleger erinnern? Das ist eine lustige Geschichte. Nachdem wir jahrelang kleine Hefte und Literaturzeitschriften herausgegeben hatten, waren die ersten beiden Veröffentlichungen zwei Gedichtbände von zwei jungen Autoren (beide damals Anfang 20), mit denen wir auf

„Er überreichte uns seine Gedichte in einer Aldi-Tüte“ Lesetour waren. Das erste der beiden und damit die erste „offizielle“ mairisch-Veröffentlichung spiegelt die Arbeitsweise der Gründungszeit gut wider: Es war der Gedichtband „und durch das bier nun also dichter“


legenheiten“ von Til Stolz. Til, den wir auf unseren Lesungen kennen gelernt hatten und der damals mit einem Irokesen-Haarschnitt und einem langen schwarzen Mantel kleine, absurde, fast schon dadaistische Gedichte vortrug, überreichte uns für das Buch sein „Gesamtwerk“ auf handbeschrifteten, halbzerrissenen und verknitterten Zetteln in einer Aldi-Tüte mit den Worten: „Da, müsst ihr mal kucken, was ihr davon brauchen könnt“. Wir haben dann eine Woche mit der Transkription zugebracht und vielleicht zwei weitere mit Lektorat, Gestaltung und Herstellung. Bald danach wurde das aber alles deutlich professioneller. Was für ein Publikum schickt Ihnen Manuskripte? Schwer zu sagen, es kommen sehr viele unterschiedliche Texte von sehr unterschiedlichen Autoren. Am angenehmsten ist es aber natürlich, wenn

„Bücher sollen uns vor allem mitreißen“ man merkt, dass der einreichende Autor unser Programm kennt, vielleicht sogar schon mal das ein oder andere

zu Gast bei Daniel Beskos vom mairisch Verlag

Buch von uns gelesen hat und weiß, dass sein Manuskript gut in unser Verlagskonzept passen könnte. Was sind die wichtigsten Kriterien, die ein Buch erfüllen muss, damit Sie es als Debüt verlegen? Wir verlegen sehr nach Gefühl. Daher heißt es bei uns auch immer: Nur Herzensangelegenheiten. Das sind dann im besten Falle Bücher, die uns beim Lesen ergreifen, mitnehmen, aufwühlen. Da ist dann das Thema oder die stilistische und formale

„Erzählungen entsprechen den neuen Lesegewohnheiten“ Umsetzung zweitrangig. Es geht vielmehr darum, wie der Autor oder die Autorin das selbstgewählte Thema umsetzt, und ob uns diese Umsetzung gefällt, allgemein: Ob das Buch seinen selbstgesteckten Anspruch erfüllen kann, „rund“ ist. Wir möchten beim Lesen einfach das Gefühl haben, etwas zu lesen, was wir so noch nicht kennen, was uns fordert oder uns mitreißt. Was dann im Umkehrschluss also meistens wegfällt, sind Texte, die sich

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einem Thema auf vielgelesene, man könnte auch sagen: bewährte, Art und Weise nähern. Was uns daneben von anderen Verlagen, vor allem den größeren, unterscheidet, ist, dass wir sehr daran interessiert sind, auch Erzählungen zu veröffentlichen. Nicht nur für Lesungen sind Erzählungen die viel adäquatere Textform, sie entsprechen auch zunehmend den Lesegewohnheiten vieler Leser, die durch Blogs und das Internet wieder verstärkt eine Wahrnehmung und ein Interesse an kurzen Texten haben. Einer der Programmschwerpunkte bei mairisch ist junge Literatur, Sie haben schon viele Debüts veröffentlicht. Gibt es einen besonderen Reiz der Erstlingswerke? Uns geht es in der Verlagsarbeit ja schon auch darum, längerfristig mit Autoren zusammenzuarbeiten und diese mit aufzubauen. Da ist es natürlich ganz besonders schön, wenn man einen Autor von Anfang an begleiten kann. Das erste Buch ist ja für die meisten etwas ganz besonderes. Das wird auch in der Presse oft so wahrgenommen. Und auch wenn wir vor allem daran glauben, dass der Autor genug Platz haben sollte, um zu reifen und sich in seinem Schreiben zu entwickeln, so ist es natürlich sehr reizvoll, ein Talent zunächst einmal zu entdecken und auf den Weg zu bringen.

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ZUM ERSTEN MAL... IN DAS ZWIELICHT TRETEN

Der Knabe // Rainer Maria Rilke Ich möchte einer werden so wie die, die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren, mit Fackeln, die gleich aufgegangenen Haaren in ihres Jagens großem Winde wehn. Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne, groß und wie eine Fahne aufgerollt. Dunkel, aber mit einem Helm von Gold, der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht zehn Männer aus derselben Dunkelheit mit Helmen, die wie meiner unstet sind, bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind. Und einer steht bei mir und bläst uns Raum mit der Trompete, welche blitzt und schreit, und bläst uns eine schwarze Einsamkeit, durch die wir rasen wie ein rascher Traum: die Häuser fallen hinter uns ins Knie, die Gassen biegen sich uns schief entgegen, die Plätze weichen aus: wir fassen sie, und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.

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(…) Als ich den Hinterhof betrat, wurde ich von dem Mann begrüßt, mit dem ich am vorherigen Tag telefoniert hatte. Er entsprach überhaupt nicht meiner Vorstellung. Ich hatte an einen bebrillten, blonden Mann gedacht, der stets einen CD-Koffer bei sich trug. Stattdessen stand vor mir ein untersetzter dunkelhäutiger Mann, der mich zur Begrüßung fragte, ob ich denn auch Musik mache. Als ich dies verneinte, schlug er mir anerkennend auf die Schulter. Offensichtlich hatte ich seinen ersten Test bestanden, denn nun wurde ich einem weiteren Mitglied vorgestellt. Ich wurde von einem türkisch stämmigen Jungen begrüßt, den ich auf Anfang zwanzig schätzte. Er nannte sich Candy und so roch er auch. Mir fiel es schwer, in seiner Gegenwart durch die Nase zu atmen, denn sein Parfüm war dumpf und schwer. Er begann davon zu erzählen, dass er aus Bayern stamme und schon sechsundzwanzig sei. Ich registrierte seine Kleidung, er war vollständig in weiß gekleidet, so als ob er ein Albino imitieren wollte. Nachdem ich ihm meinen Namen genannt hatte, drückte er mir einen Kuchen in die Hand. Scheinbar hatte ich damit den zweiten Test bestanden und durfte das Büro betreten. Wir saßen in einem kleinen Raum, in dem ich mit meiner zukünftigen Tätigkeit vertraut gemacht wurde. Ich sollte Menschen auf der Straße ansprechen und ihnen die CDs verkaufen. Meine Vorfreude wurde sichtlich gebremst, doch sie verstanden es als ein Zeichen meiner Schüchternheit. Als die weiteren Bewerber eintrafen, wurde ich in das Tonstudio geschickt, das früher mal ein Wohnzimmer gewesen war und es zum größten Teil auch noch war. Aus dem Nebenraum drangen die Sätze, die ich eben schon gehört hatte und ich ließ mich auf eine beige Kunstledercouch fallen, die ungefähr zwanzig Zentimeter über den Boden ragte. Auf einem Stuhl saß mir ein weiterer Mann gegenüber, der einen Schlafanzug trug, der ihm drei Nummern zu groß war. Sterne bedeckten den blauen Hintergrund, die sich im Takt bewegten als er auf der Trommel spielte. Während einer kurzen Pause nannte er mir seinen Namen: Baron. Ich konnte nicht erkennen, warum er sich so nannte. Weder seine Kleidung noch seine zusammengewachsene Augenbraue erinnerten mich an einen Baron. Als ich ihn nach der Herkunft seines Namens fragte, reagierte er nicht, sondern konzentrierte sich nur noch mehr

Mein Tag als Straßenverkäufer // Stephan Heiden

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auf seine Trommel, auf die er im immer gleichen Takt einschlug, so dass ich langsam eingelullt wurde. Ich schreckte hoch, als sich Candy neben mir fallen ließ. Er fingerte kurz in den Essensresten, die auf dem Tisch verteilt waren, doch schien ihm die Butter bereits zu geschmolzen zu sein. „Die sollten wir wegwerfen, die liegt hier schon seit drei Tagen.“ stellte er fest. „Ach was, Butter bleibt Butter.“ stellte der Baron philosophisch fest. Ihm schien es nicht möglich zu sein, die Tonlage zu wechseln, er sprach immer auf diese monotone Weise. „Wo kommst du eigentlich her?“ fragte er mich plötzlich ohne bestimmten Grund. „Ich komme aus dem Wedding.“ Ich wusste nicht, warum ich ihm antwortete, vielleicht hoffte ich auf ein Gespräch, doch er wandte sich augenblicklich wieder seiner Trommel zu. „Fahr doch mal den Rechner hoch, dann kann ich ihm etwas vorspielen.“ Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Ich wollte mir nicht anhören müssen, was Candy in seiner Freizeit kreierte. „Ach, chill doch mal.“ antwortete der Baron, der aussah, als ob er schon zu viel in seinem Leben gechillt hatte und sich nicht mehr vorstellen konnte, wie ein Leben ohne möglich sei. So saßen wir schweigend in dem Raum, auf dessen Boden mehrere Frischhaltebeutel mit Tabak lagen. Welchen Sinn sollte das haben? Während ich mich damit beschäftigte, ertönte wieder die unveränderbare Stimme. „Cool, hast du da schon immer gewohnt?“ Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass der Baron unser Gespräch wieder aufgegriffen hatte. „Nein, früher habe ich in Pankow gelebt.“ Ich war zu erschöpft, um ihm dies zu erklären, aber das wollte er auch nicht. „ Boah, wer hätte jemals gedacht, dass ich mal Trommeln würde, aber Trommeln ist voll cool.“ „Fahr doch mal den Rechner hoch.“ wiederholte Candy, aber der Baron war wieder mit seinem Instrument beschäftigt. Candy hüpfte unruhig umher, ich spielte mit einem Fussel, da mir nichts Besseres einfiel zum Zeitvertrieb. Aus dem Nebenraum drangen wieder Stimmen hervor und die anderen Bewerber verabschiedeten sich. Wieso durften die gehen und ich nicht? „Die können heute nicht, aber wir können noch losgehen.“ kam plötzlich der Vorschlag vom Chef, dessen Namen ich vergessen hatte. Hatte er ihn mir überhaupt genannt? Jetzt wusste ich wenigstens, warum ich hier bleiben sollte. Sie hatten mich also bereits zum Verkauf eingeteilt. Das würde sicherlich viel Spaß machen, stellte ich bitter fest. (…) Als erstes musste ich dem Verkaufsgespräch von Candy lauschen, der mich sogleich darauf hinwies, dass das kein Ver-

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kauf, sondern ein Tausch sei. „Und was ist das für ein Tausch?“ fragte ich unwissend. Er rollte mit den Augen, ehe er zu einer Erklärung ansetzte: „Wir geben ihnen die Möglichkeit, ein Teil von uns zu werden und sie geben uns dafür ihre Unterstützung.“ Das erschien mir zwar nicht logisch, doch ich schwieg lieber, bevor er mich für unzurechnungsfähig einstufte. Als er das erste Pärchen ansprach, stand ich unauffällig in seiner Nähe und hörte gebannt zu, wie er sie überzeugen würde. „Hey Leute, wie geht es euch? Ich bin Candy. Ich weiß nicht mehr, warum ich diesen Namen habe. Die Mädchen haben mich früher immer so gerufen, wahrscheinlich weil ich so viele Süßigkeiten gegessen habe. Also ich bin Candy wie der Candyman, ich komme auch nachts, bloß ohne Haken, denn bei mir gibt es keine Haken. Ich komme von einem kleinen Plattenlabel, das sich gegründet hat, weil wir schlechte Erfahrungen mit der Plattenindustrie gemacht haben, die wollten uns ein Image aufzwingen, das wir nicht wollten. Wir sammeln auch immer mehr Künstler bei uns, die sich für einen anderen Weg entschieden haben. Wir haben bereits mehrere CDs veröffentlicht und ich darf euch stolz unsere dritte Produktion anbieten. Mit Salsa für die Oberschenkel, HipHop für das Genick, Reggae für das Herz und Soul für die Seele. Genau das richtige in solch harten Zeiten. Wir machen CDs mit systemkritischen Texten, die sich gegen Systeme wie dieses wenden, die Finanzkrisen verursachen. Ich sage ja immer, dass wir alle, wenn es so weiter geht, eines Tages in der Ebbe Watt wandernd mit Gummistiefeln umherziehen werden. Deshalb möchte ich euch einen Tausch vorschlagen. 15 Euro kostet sie natürlich nicht wie bei Media Markt oder anderen kapitalistischen Läden, die nur euer Geld wollen. Sieben Euro für eine CD und zehn für zwei. Das ist günstiger als ein Paar Gummistiefel heute Abend. Ihr müsst euch nur entscheiden, Gummistiefel oder endlich in die andere Richtung.“ Anfangs wirkte dieser Monolog noch recht nett konstruiert, doch als ich ihn zum dreißigsten Mal hörte, langweilte ich mich schrecklich. Immer wieder scheiterte er und als ich zu kichern begann, forderte er mich auf, auch Leute anzusprechen. Unwillig sprach ich den ersten an. „Hi, wie geht es dir? Gut, dass ist doch schön.“ und ich wiederholte mühsam den Monolog, den ich von ihm übernommen hatte. Noch hielt ich es für Anfangsschwierigkeiten, doch als sich dies immer wiederholte, erkannte ich meine Unfähigkeit, in diesem Geschäft erfolgreich zu sein. Immer häufiger blickte ich unauffällig auf meine Uhr, doch die Zeiger schienen sich rückwärts zu bewegen,

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so langsam verging die Zeit. Jedes Mal, wenn ich jemanden ansprechen musste, packte mich die kalte Angst. Trotz dieser Beklemmung gelang es mir unerklärlicherweise nach drei Stunden zwei CDs zu verkaufen. Vielleicht hatte ich so hilflos gewirkt, dass sie gar nicht anders konnten als mir die CDs abzunehmen. Von mir selbst verblüfft bemerkte ich nicht, wie Candy mir auf die Schulter klopfte. Das wiederholte er so lange, bis ich endlich reagierte. Irgendetwas stimmte mit denen nicht, wieso mussten sie mir bei jeder Möglichkeit auf den Rücken klopfen? Als ich zum nächsten Tisch ging mit einem breiten Grinsen wurde ich von den vier Personen herzlich empfangen. (...) Ich hatte meinen Text zum unzähligsten Mal wiederholt und sie hörten sich bereits einige Songs an, als ein Mann sich ihrem Tisch näherte. Wir waren ihm schon vorher begegnet und er hatte uns wütend beschimpft, als wir ihm keine CD verkauften. Deshalb waren wir schnell geflohen, doch er hatte uns wieder gefunden. Er beugte sich weit vor, so dass sein Gesicht neben dem von einer der beiden Frauen war. Er spie voller Kraft auf den Tisch, doch statt Schleim lag da nun ein brauner verfaulter Zahn. Einer der beiden Männer schnippte den Zahn weg und er landete an Candys Hose. Sie lehnten es auch ab, die CD zu kaufen und der Mann lief laut lachend weiter und rüttelte an seinen restlichen Zähnen, um vielleicht noch einen nach uns zu werfen. Nach diesem Zwischenfall beschlossen wir, den Verkauf aufzugeben und liefen die dunklen Straßen entlang. Hauptsächlich sprach Candy, dessen Sätze so einstudiert klangen wie sein Verkaufsvortrag. (...) Schließlich erreichten wir den vereinbarten Treffpunkt, wo ich Candy endlich sagte, dass ich das zukünftig nicht mehr machen würde (...) und lief mit einem breiten Grinsen fort. Ich durchquerte den Mauerpark mit einer unvorstellbaren Freude, denn ich hatte diesen schrecklichen Abend endlich überstanden. Der Mond schien heller als zuvor, als ob er mich beglückwünschen wollte.

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„Ein konstantes Interview: Luca Liechti Frau Elmiger, Sie sind der Öffentlichkeit spätestens seit letztem Sommer und den Klagenfurter Literaturtagen bekannt. Sie geben Lesungen und Interviews, Sie haben Facebook-Fans; wildfremde Leute editieren Ihre Wikipedia-Seite. Was hat sich dadurch verändert? Es gibt mehrere Antworten auf diese Frage. Einerseits verändert sich das alltägliche Leben. Das ist mittlerweile wieder ganz normal, aber im letzten Herbst herrschte schon ein bisschen Ausnahmezustand. Ich war ständig unterwegs. Man lernt viele Leute kennen und erlebt viel. Aber es verändert sich auch das Selbstverständnis als Person, die schreibt. Dieser

„Ein Buch ist eine Verantwortung“ Aspekt ist viel weitreichender, aber auch viel unauffälliger. Es ist schon ein spezieller Moment, wenn man plötzlich das Buch in der Hand hält und realisiert, dass man das selbst geschrieben hat. Jetzt ist alles festgeschrieben und man muss irgendwie dafür geradestehen. Es ist festgeschrieben, und man hat die Verantwortung dafür. Ich glaube es sind ganz verschiedene Gefühle, die einem da begegnen. Es gibt dann natürlich eine Erwartung von

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außen, aber auch die Verantwortung oder das Gefühl, dass man sich rechtfertigen müsste. Aber diese Gefühle, die man im ersten Moment hat, gehen schnell wieder vorbei. Die Frage ist längerfristig eher, wie es einen wirklich verändert. Auch die Feststellung, dass man plötzlich Teil des Literaturbetriebs ist, ob man will oder nicht und wie man will oder nicht, und ob das einen Einfluss hat auf das Schreiben und auf das Selbstverständnis. Ist das etwas, woran Sie häufig denken? Dass Sie ja publizierte Autorin sind, hoppla? Natürlich ist es auf eine Art eine große Veränderung. Es ist auch etwas, worüber ich mich manchmal freue. Am Anfang dachte ich, ich verstehe es noch nicht – ich dachte immer, ich hätte einen Moment bis ich vestehe, was das bedeutet, ein Buch gedruckt zu haben. Aber mittlerweile glaube ich, dass man es vielleicht überhaupt nicht versteht. Es gibt keine Schwelle? Es ist schwer zu erklären. Eigentlich ist es ja immer noch der gleiche Text, wie man ihn bei sich zuhause auf dem Schreibtisch gehabt hat, und plötzlich ist er dann ein Buch. Vielleicht ist die Annahme, dass es mit der eigenen Person oder dem Selbstverständnis so viel ändert, auch einfach


Scheitern“ nicht richtig. Oder es ist etwas, was nie so richtig zu einem durchdringt. Die Einladung an die Waghalsigen ist Ihr Debüt als eigenständige Veröffentlichung. Was geht in Ihrem Fall dem Debüt voraus? Ich habe ziemlich lange an dem Text geschrieben. Am Anfang habe ich überhaupt nicht daran gedacht, dass der Text irgendwann veröffentlicht werden sollte

„Mir war das Verhältnis zum Lektor am Wichtigsten“ oder könnte. Dann war ich in Klagenfurt als Stipendiatin eingeladen. Da führt man mit den Tutoren und Tutorinnen sehr private Gespräche über die Texte. Dort bin ich das erste Mal mit dem Lektor in Kontakt gekommen. Er hat mich aufgefordert, mehr zu schicken. So und über verschlungene Wege ist dann der Kontakt mit Dumont zustandegekommen. Das Manuskript habe ich ihnen aber erst geschickt als ich fand, es sei fertig. Vorher konnte ich es nicht herausgeben. Es war von Anfang an Dumont? Nein, es gab noch einen anderen Verlag, aber dort war ich mit dem Lektorat nicht so glücklich. Die meisten jungen Autoren arbeiten ja heute mit Literaturagenturen

zu Gast bei der Autorin Dorothee Elminger

zusammen. Das wollte ich aber eigentlich nicht und habe darum alles selbst gemacht. Dafür hatte ich auch keine Ahnung. Die ganzen Entscheidungen: Verhandelt man um’s Geld? Ist das Verhältnis zum Lektor wichtiger oder der Name des Verlags? Sollte man schauen, dass man in’s Verlagsprogramm passt oder ist das sowieso unmöglich? Diese Fragen zu gewichten war schon schwierig. Ich habe dann beschlossen, dass das Verhältnis mit dem Lektor am wichtigsten sei, und dass der Text so unbeschadet wie möglich durch diese Maschine geht. Bei meinem Lektor, einem jungen Mann nicht viel älter als ich selbst, habe ich das Gefühl, dass er den Text ernst nimmt und auch selbst etwas damit anfangen kann. Haben Sie dennoch den Rat anderer Leute eingeholt? Natürlich. Ich habe zum Beispiel versucht, Autoren und Autorinnen verschiedener Verlage zu kontaktieren und sie zu fragen, wie es ihnen dort geht. Trotzdem muss man diese Dinge, wenn man nicht mit einer Agentur zusammenarbeitet, allein entscheiden. Es ist nicht wie an der Uni, wo 15 Leute gerade in der gleichen Situation sind. Ich bereue es aber im Nachhinein nicht. Natürlich hätte eine Agentin bestimmt besser verhandeln können, aber ich finde es auch ganz wichtig, dass man

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selbst diese Erfahrung macht und auch sieht, wie es läuft und wie das alles funktioniert oder eben nicht. Wie macht man das konkret, ein Buch schreiben? Keine Ahnung (lacht). Nein, ich weiß es wirklich nicht. Manchmal lese ich ein Buch und frage mich, wie kann man so ein Buch eigentlich schreiben? Sie haben es ja geschafft! Ich habe natürlich nicht das Gefühl, dass ich es wirklich geschafft habe. Es ist eher so ein Versuch. Als ich aufgehört habe hatte ich nicht das Gefühl, ich hätte es

„Anstrengend ist es sowieso“ geschafft. Ich hatte eher das Gefühl, ich sei gescheitert und bräche jetzt ab (lacht). Das ist natürlich ein Klischee, aber es stimmt trotzdem. Es ist wie ein konstantes Scheitern, weil man bei jedem Satz merkt, dass man nicht an den idealen Satz, der einem im Kopf herumschwirrt, rankommt. Aber das ist auch ein Motor, der einen dann immer wieder zum Schreiben bringt. Wie haben Sie gearbeitet? Es war vor allem ein sehr langer Prozess. Und es gab mehrere Phasen. Am Anfang sammelte ich ziemlich chaotisch drauflos. Ich sammelte überall, von Enzyklopädien bis zu Zeitungen – und in jeder Hinsicht. Im Alltag, in Büchern. Ich habe auch gezielt viel über Bergbau gelesen. Zum

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Teil habe ich die Zeitung aufgeschlagen und irgendwas gelesen, was dann in den Text eingeflossen ist. In dieser Anfangszeit war es ein Notieren, Skizzieren, Sammeln, da gab es auch keinen klaren Tagesablauf. Hingegen im späteren Verlauf, wo es auch um Struktur und Überarbeitung ging, bin ich morgens immer um die gleiche Zeit aufgestanden, habe mich an den Schreibtisch gesetzt und bis in den Nachmittag hinein geschrieben und an dem Text gearbeitet. Die Arbeitsweise und -zeiten passen sich der Art und Weise des Schreibens an. Am Anfang freut man sich wahnsinnig, wenn man eine tolle Idee hat oder etwas Interessantes liest. Und danach wird es vor allem anstrengend, aber das ist es sowieso (lacht). Gibt es beim Schreiben auch Sachen, vor denen man sich drückt, etwa besonders schwierige Passagen? Da muss ich ganz grundsätzlich ja sagen. Manchmal fragt man sich schon, was man da eigentlich macht. Man sitzt meist ganz allein an einem Tisch und schreibt, und das über lange Zeit hinweg. Und manchmal denkt man sich schon, es könnte ja sein, dass man völlig übergeschnappt ist. Und irgendwann steckt man in der Mitte eines Textes und muss sich entscheiden, weiterzumachen oder aufzuhören.

„Man weiß nie, ob es völliger Wahnsinn ist“ Man muss sehr stur sein, dass man sich nicht beirren lässt. Es gibt für mich viele Morgen, an denen ich aufwache und dann


kommt mir der Text in den Sinn, an dem ich arbeite, und dann ist es eine ganz grundsätzliche Angst oder ein Verdrängen, dann wasche ich zuerst ab, erledige die Wäsche, mache Kaffee... Prokrastination. Schon, aber dort geht es dann nicht um etwas Konkretes, etwa eine bestimmte Passage, sondern es ist eine viel grundsätzlichere Angst, dass man seit Monaten an einem Text sitzt und es sich herausstellen könnte, dass es völliger Wahnsinn ist. Man weiß das ja nie. Im besten Fall hat man Leute, die ab und zu lesen, aber für mich gibt es zuerst immer eine lange Zeit, in der ich den Text nicht einfach so rausgeben kann. Da hinterfragt man dann schon mal das ganze Projekt. Was ist in Ihnen vorgegangen, als Sie wussten, dass Sie gerade die allerletzten Änderungen Ihrerseits am Text vorgenommen hatten? Dieser Zeitpunkt kam ziemlich spät, nach dem Lektorat. Ich war froh als ich wusste, jetzt kann man nichts mehr machen. Gleichzeitig war ich natürlich nervös, weil man nie denkt, dass jetzt alles ist wie es sein sollte. Auch jetzt, wenn ich daraus vorlese, denke ich manchmal, dass ich einige Stellen anders machen würde. Oder es kommen mir noch Sachen in den Sinn, die ich auch hätte reinschreiben sollen. Das ist wohl ganz normal. Aber anders als bei älteren Texten kann ich eigentlich immer noch so hinter Einladung an die Waghalsigen stehen wie vor einem Jahr. Davor hatte ich schon etwas Angst. Oder

dass das viele Reden darüber den Text für einen selbst beschädigt. Oder Kritiken. Sie haben zuerst Philosophie und Politologie in Zürich studiert, aber abgebrochen. Dann sind Sie an das Bieler Literaturinstitut gegangen und waren ein Semester in Leipzig. Jetzt studieren Sie Politologie in Berlin. Was ist das für ein Bildungsweg? Vor meinem ersten Studium bin ich mehr oder weniger enttäuscht an das gerade neu eröffnete Literaturinstitut geflohen. Dass ich jetzt wieder an der Uni bin hat damit zu tun, dass man am Literaturinstitut sehr praxisorientiert studiert hat, aber wenig theoretisches Fundament mitgekriegt hat. Jetzt studiere ich aber schon in Hinblick auf das Schreiben. Es ist nicht mein Plan, Politikwissenschaftlerin zu werden. Ist Literatur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? Diese Frage ist sehr schwierig, weil sich ja schon ganz viele daran versucht haben und vielleicht auch gescheitert sind. Mir persönlich reicht Literatur, die sich nur um sich selbst dreht, nicht. Die Fragen, die mich interessieren und bewegen sind nicht unbedingt Fragen, die sich mit Beziehungsleben oder anderen rein privaten Dingen befassen. Für die Literatur ist es enorm wichtig, dass sie gerade auch Widersprüche aushalten kann. In der Politik hingegen ist es ja wichtig, dass es eine größtmögliche Eindeutigkeit gibt. Darum gibt es vielleicht keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht ist das trotzdem eine Antwort.

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ZUM ERSTEN MAL... DEINE MUTTER

Ein neuer Anfang – und trotzdem kein Ende in Sicht Kolumne: Felix Müller Letzte Woche habe ich eine Mail von meiner Schwester bekommen. Soweit nichts Ungewöhnliches, jedoch machte mich der Betreff stutzig: Du bist jetzt Onkel! ‚Zum ersten Mal Onkel’, dachte ich, ,ein schöner Anfang.’ Doch als ich sie einen Tag vorher gesehen hatte, war noch nicht einmal ein Bauch zu erkennen. Verwunderung, die sich in der Feststellung auflöste, dass ich jetzt Onkel eines Hamsters bin. Doch hat dies wieder einmal gezeigt: Es kommt bei jedem Anfang anders als man denkt. Anfänge überraschen einen öfter als man es zugeben mag. Gnädig sind jene, die sich vielleicht vorher ankündigen, doch vertrauen kann man darauf nicht. Meist kommt ein Anfang einfach so daher und drängt sich förmlich auf: „Hallo, ich bin der Anfang und bin jetzt da!“ Daran ist eigentlich nichts Schlimmes oder Verwerfliches. Das Problem ist nur, dass der Anfang damit an einer Leerstelle im Leben ansetzt, mit der man nicht rechnet: Der Anfang, das Debüt, das erste Mal – all die fiesen Dinger stellen sich gegen das, was sich gemütlich durch unseren Alltag zieht: die Gewohnheit. Damit bekämpft er die vielleicht einzige Sicherheit, die wir noch haben. Wir fühlen uns sicher in der U-Bahn – bis zum ersten Mal eine Fahrkartenkontrolle und das Vergessen des eigenen Fahrscheins im Wagen aufeinander treffen. Da kommen einem Geschichten in den Sinn, wie die eines kleinen Kindes, das irgendwo in der Prärie aus genau diesem Grund aus der Bahn geworfen wurde. Seitdem versuche ich diesen paranoiden Zustand bei der Einfahrt der Bahn einfach zu ignorieren. Damit hätten wir auch ein weiteres Merkmal des Anfangs: Er ist nie vorbei. Damit meine ich nicht nur dieses beklemmende Gefühl in öffentlichen

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Verkehrsmitteln. Nein, man kommt auch irgendwie nicht drum herum, dass immer neue Anfänge, wie der erste offene Hosenstall bei einem Vorstellungsgespräch, die Schwaben-Witze, die vom Gegenüber mit einem „I komm aus Schwobe!“ quittiert werden und natürlich ein großzügiges etc. im Leben auftauchen und dort dauerhaft sesshaft werden. Man beginnt zwangsläufig, sich über die Verwandtschaftsverhältnisse von Anfängen und Fettnäpfchen Gedanken zu machen. Doch wird man den Anfängen sicher nicht gerecht, wenn man nur die schwarzen Schafe der Familie erwähnt. Zugegeben, die Herde der Anfangsschafe besteht vorwiegend aus schwarzen Exemplaren, aber ein, zwei weiße verirren sich doch ab und an unter sie. Auch hier gibt es Beispiele: Der erste Satz eines Buches, die ersten Sekunden eines Films, auf den man schon ein halbes Jahr hingefiebert hat, das erste Mal, dass man einen ‚deine Mutter’-Witz hört. Seitdem meine Mutter bei einer Glastür durchs Schlüsselloch guckt, ist mein Leben doch irgendwie bereichert. Dumm nur, dass man so selten bestimmen kann, welche Art Anfang da gerade vor einem steht. Würde er auf einen zukommen und sagen: „Hey ich bin der Anfang, den du für den Rest deines Lebens bereuen wirst!“ wäre das fair und ich könnte mir zumindest noch zweimal überlegen, ob ich ihm die Hand schütteln soll. Manche meiner komischen Gewohnheiten sind mir dann doch so lieb, dass ich sie mir nur ungern von einem dahergelaufenen Anfang vermiesen lasse. Aber leider zeigen sie einem lieber eine der Grundfiesigkeiten des Lebens: Kann man halt nichts machen. Ich jedenfalls versuche mich irgendwie mit meinen Anfängen zu arrangieren. Ich täusche epileptische Anfälle vor, sobald Kontrolleure die Bahn betreten, lese erste Seiten einfach mehrfach, sage den Schwaben, dass mir das wirklich Leid für sie tut. Seit ich Onkel bin, seh’ ich auch alles viel gelassener. Jetzt weiß ich, wie meine Schwester sich gefühlt haben muss; schließlich ist auch sie Tante eines Schäferhundes. Ich gebe zu ich freu' mich schon darauf, wenn er mit meinem Neffen im Garten spielt.

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100 WÖRTER ZUM THEMA... DEBÜT

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Der junge Schriftsteller, der Debütant, möchte nur eines: gedruckt werden. Mit dem gedruckten Buch wird er erst Schriftsteller, das genügt vorerst. Der Debütant ist voller Hoffnung, dass sein Buch von allen mit Begeisterung aufgenommen wird, ebenso sein Verleger. Aber es ist der Buchhändler, der viele Vertreter literarischer Verlage empfängt. Er muss auswählen, auch aus wirtschaftlichen Erwägungen. Nicht alle Bücher kann er lesen, doch er hat seine literarischen Erfahrungen. Aber er kennt auch seine Kunden, und die wollen oftmals die Werke bekannter Autoren. Also muss er ein Wagnis eingehen. Ich habe mich gern diesem Wagnis gestellt und junge Autoren zu einer Lesung eingeladen, meist im kleinen Kreis, wo sich die Debütanten der Kritik und der Ermutigung stellen konnten. Einige von ihnen sind heute bekannte Autoren wie Julia Franck und Wladimir Kaminer. (Renate Saavedra, Buchhändlerin)

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Impressum Herausgeber, Redaktion und Vertrieb: Anneke Lubkowitz Luca Liechti Theresa Lienau Felix Müller Lorenz Becker Kontakt: Lienau, Weichselstraße 55, 12051 Berlin eMail: sachen_mit_woertern@gmx.de Fotos: Felix Müller und Lorenz Becker Illustration: Petrus Akkordeon Layout: Theresa Lienau Alle Rechte zu den abgedruckten Texten liegen bei den Autoren. Ausgabe 01, Oktober 2011

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Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunklen Spiegel die Schakalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer. (Hermann Hesse: Demian) // Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von seiten der Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin. (Thomas Mann: Buddenbrooks) // Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther) // Stiller blieb in Glion und lebte allein. (Frisch: Stiller) // „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, also sollte die Scham ihn überleben. (Kafka: Der Prozeß) // Alles Vergängliche/ Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche,/ Hier wird’s Ereignis;/ Das Unbeschreibliche,/ Hier ist‘s getan;/ Das Ewig-Weibliche/ Zieht uns hinan. (Johann Wolfgang von Goethe: Faust II) // Darcy, as well as Elizabeth, really loved them; and they were both ever sensible of the warmest gratitude towards the persons who, by bringing her into Derbyshire, had been the means of uniting them. (Jane Austen: Pride and Prejudice) // It was the devious-cruising Rachel that in her retracing search for her missing children, only found another orphan. (Herman Melville: Moby Dick) // Hier brach die Kraft der hohen Phantasie;/ Doch schon bewegte meinen Wunsch und Willen;/ so wie ein Rad, das gleicher Umschwung treibet,/ Die Liebe, die beweget Sonn‘ und Sterne. Zwischen ihm und dem Volk erneuerte jetzo das Bündnis/ Pallas Athene, die Tochter des wetterleuchtenden Gottes,/ Mentorn gleich in allem, sowohl an Gestalt wie an Stimme. (Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie) // The old man was dreaming about the lions. (Ernest Hemingway: The Old Man and the Sea) // Eine Handbewegung, und wir werden uns setzen, werden einander reglos gegenübersitzen, zufrieden mit uns, weil jeder das Gefühl haben wird, gewonnen zu haben. (Siegfried Lenz: Deutschstunde) // Dann höre ich den Chor der Sturmgeräusche,/ höre das bedrängte, seufzende Haus,/ höre den Brandungsdonner aus der Tiefe/ und schlafe beruhigt weiter, erleichtert,/ daß auf Horse Island alles getan ist / und ich bloß warten muß/ auf das Nachlassen des Windes, / auf sanfteres Meer. (Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg) // Don‘t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody! (J.D. Salinger: The Catcher in the Rye) // Amen.



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